Gewissen und Verantwortung
Voller Mahn- und Gedenktage ist der Monat November – am 9.11. das Gedenken der Reichspogromnacht am Platz der ehemaligen Synagoge in Meiningen und am morgigen Volkstrauertag wird an zahlreichen Plätzen der Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gedacht.
86 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges gibt nur noch wenige Soldaten als Zeitzeugen. Ich erinnere mich an ein bewegendes Gespräch aus früheren Jahren. Einer berichtetet, wie er als 18 Jähriger das Feuer auf ein russisches Dorf eröffnen musste: „Ich wusste, dass ich jetzt Menschen töte, möglicherweise auch Frauen, Kinder, alte Menschen. Sie haben mir persönlich nichts getan. Vermutlich haben sie – die Russen - das Leben so geliebt wie ich - der Deutsche. Ob sie uns getötet hätten, wenn wir ihnen nicht zuvorgekommen wären? Ich weiß es nicht. Ich war Soldat und habe gehorcht. Und doch wusste ich, dass es falsch ist, was ich tue. Aber hatte ich eine Wahl? Damals in Russland oder zuvor bei der Einberufung? Wenn ich den Dienst an der Waffe verweigert hätte, man hätte mich verhaftet, vermutlich auch getötet. Das habe ich weder gewagt und ernsthaft erwogen. Was hätte auch ein Einzelner bewegen können in der Maschinerie des Schreckens?“
Es ist ein Nachdenken über persönliche Verantwortung, über das Schuldigwerden und über Dilemma, in denen Menschen stecken, wenn sie nur noch zwischen (vermeintlich) schlechten Lösungen wählen können.
Wie konnte es geschehen, dass hundertausende jüdischer Mitbewohner, die Nachbarn, Kollegen oder Geschäftspartner waren, schikaniert, später deportiert und ermordet und so viele dazu geschwiegen haben?
War es Angst aufzufallen und das gleiche Schicksal zu teilen, Gleichgültigkeit oder ein stilles oder sogar lautes Einverständnis?
„Wir konnten nicht anders!“ „Alle haben es so gemacht, weggesehen und geschwiegen!“ „So war halt die Zeit. Und was kann ein Einzelner schon tun?“
In den Reden an den Mahn- und Gedenkorten wird die Verantwortung einer Zivilgesellschaft für Frieden und Gerechtigkeit angemahnt und ausdrücklich an die persönlichen Verantwortung, sich für Frieden, Versöhnung und gegen Hass und Menschenverachtung einzusetzen, appelliert.
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ – dieses strenge Bibelwort gehört in den evangelischen Kirchen zum vorletzten Sonntag im Kirchenjahr.
Christenmenschen werden erinnert, dass sie berufen sind, mit ihrem Reden und Handeln Christus, den Liebhaber des Lebens, zu bezeugen. Die Bindung an Christus, in dem jeder Mensch Wert und Würde hat, ruft jeden Christenmenschen in die Verantwortung und zu einem respektvollen und achtsamen Umgang mit allem Lebendigen auf.
Beate Marwede, Superintendentin