31.05.2012
Gedenken an Zwangsumsiedlungen - "Aktion Ungeziefer"

In den ersten Juni-Tagen jähren sich die Zwangsumsiedlungen in zahlreichen ehemaligen Grenzorten zum 60.Mal. Unter dem Namen „Aktion Ungeziefer“ wurden u.a. am 5./6.Juni viele Familien gezwungen ihre Häuser und Orte zu verlassen, um in andere Teile des Landes umgesiedelt zu werden.

So waren in den Orten Berkach über 70 Personen und Nordheim über 80 Personen unmittelbar betroffen.

Die Kirchgemeinden des Kirchenkreises Meiningen gedenken dieser Ereignisse. In Helmershausen wird am 5.Juni um 18.30 Uhr zu einer Andacht in die Kirche eingeladen, in Nordheim steht der Gottesdienst am 10. Juni um 13.30 Uhr in der Kirche im Zeichen des Gedenkens.

Auch die „Radtour ohne Grenzen“, die am 10.6. um 9.40 Uhr in Mendhausen startet und nach Irmelshausen führt, wird das Gedenken an die Zwangsumsiedlungen zum Thema haben. In allen Gottesdiensten am 10.Juni wird in der Fürbitte der Betroffenen der Zwangsumsied-lungen gedacht.

Hier Gedanken von Pfarrerin Brigitte Koch:

Ein Jubiläum? Keineswegs, auch wenn man Daten bestimmter Ereignisse, die nach soundsovielen Jahren wiederkehren, so bezeichnet. Ein bemerkenswertes, geschichtsbeladenes Datum, ja, aber für niemanden Anlass, an Feierlichkeiten zu denken.

In Berkach hängt eine Tafel in der Ortsmitte:
5./6. Juni 1952
21 Familien mit 43 Erwachsenen und 29 Kinder wurden in den Landkreis Gotha ausgesiedelt.
Im benachbarten Nordheim umfasste die Aussiedlung 59 Personen, davon 22 Kinder und Jugendliche.


Immer wieder bekomme ich davon erzählt. Ich höre und spüre die emotionsschweren Berichte. Als Zugezogene habe ich keine Ahnung von dem, was wirklich da in den frühesten Morgenstunden im Juni 1952 geschah.
Unvorstellbar trotz detaillierter Berichte von Zeitzeugen.

Da schlief keiner mehr im Dorf. Eine Liste mit Namen. Und wer darauf stand, musste packen, packen im Handumdrehen, in wenigen Stunden Hab und Gut auf einen LKW.

Was wird aus dem Haus? Wer füttert die Tiere? Was wird mit uns?
Und Nachbarn, die halfen, hörten kurz darauf ihren Namen, mussten selbst packen.

Zwangsumsiedlung! Warum? Wohin?
Es wimmelte von Uniformen auf der Dorfstrasse - aber Antworten gab es nicht, nur Hast und Angst und Eile und Weinen.

Eine Schlange von LKWs. In Rentwertshausen ging es in den Zug. „In Viehwagen mussten die Leute einsteigen“ erzählte mir eine alte Nachbarin, „ich höre sie heute noch schreien und weinen.“ 60 Jahre liegen dazwischen, aber die Brisanz der Ereignisse ist bis heute schmerzhaft zu spüren.

Eine unvorstellbare Nacht! Zwangsaussiedlung! Wohin?
Man erzählte mir, dass selbst der Lokführer die Antwort nicht kannte. „Fahr los!“ war sein Befehl.

Was hätte ich eingepackt? Kann man da überhaupt noch klar denken? Was fühlten die, die hier schon seit Generationen wohnten, Schulzeit, Ehejahre, Freud und Leid!? Hier war ihre Heimat, hier lagen ihre Lieben auf dem Friedhof!
Was passt auf einen LKW von dem, was mir lieb und wert ist? Was brauche ich am nötigsten?

Was fühlten die, die die Listen vorlesen mussten, die Durchführung eines solchen Befehls gewährleisten mussten, frage ich mich. Auch sie hatten in dieser Nacht nicht geschlafen. Konnten sie es in den darauffolgenden?

Da gehen zwei Dörfern ¼, fast 1/3 seiner Mitbewohner verloren!!
Als ich zum ersten Mal las, dass diese Aussiedlung den Titel „Aktion Ungeziefer“ trug, konnte ich nicht weiterlesen.

Ich bin nur eine Zugezogene . Was bewegen Betroffene, Nachbarn, Verwandte, Berkacher und Nordheimer in ihrem Herzen? Alles das im Juni 1952. Unrecht wird auch von den Jahren nicht zugedeckt oder ausgelöscht.
Als Nichtbetroffene oder doch: Betroffene, werde ich hier mit einem Kapitel Deutscher Geschichte konfrontiert, das nicht verschwiegen werden kann und darf.

Unrecht, bitteres, schmerzendes Unrecht.
Nachdenken müssen auch die Nachgeborenen und begreifen, dass Demokratie ein hohes Gut ist, Freiheit und Toleranz wertvoll und bewahrenswert sind.

5./6. Juni 2012
In Berkach und Nordheim kein Jubiläum und doch ein Datum von ganz besonderer Bedeutung.
Fürbittend werden wir gedenken.
 

Brigitte Koch, Pastorin in Berkach und Nordheim im Grabfeld seit Oktober 2008