Alle Heiligen und ich...
Es muss wohl in der achten Klasse gewesen sein. Ich sollte einen Hausaufsatz schreiben über „eine Person, die mein Vorbild ist“. Die Suche nach einem geeigneten Objekt gestaltete sich geradezu problematisch. Die damaligen Politgrößen der DDR und Sowjetunion, Partei-und Arbeiterführer und die Klassiker des Marxismus-Leninismus kamen nicht infrage (obwohl das wohl erwartet wurde...), kirchliche Größen wollte ich damals nicht so recht als Vorbilder annehmen (obwohl auch das von anderer Seite erwartet wurde...). So kam nach Drängen meiner Eltern eine Person ins Visier, die ich dann halbwegs akzeptierte: meine Schwester.
Von einem Vierzehnjährigen, der gerade sowieso ein Problem mit Autoritäten hat, zu verlangen, sich auf ein Vorbild festzulegen, war schon aus meiner heutigen Sicht ein pädagogischer Fehlgriff.
Dann auch noch die vierzehn Jahre ältere Schwester, die mich erziehen wollte… Ich hatte Mühe mit dem Aufsatz.
Mit Vorbildern ist das so eine Sache. Sie bereiten uns Mühe. Denn ganz „glatt“ sind ihre Lebensläufe nie. Dabei habe ich sie dringend nötig, weil ich mein Handeln und Denken immer an anderen Menschen messe, bisweilen auch ausrichte. Gerade politische und religiöse Überzeugungen entstehen nicht aus dem Nichts.
Meine großen Vorbilder leben zum Teil noch, sind auch manchmal jünger als ich. Auch wechseln sie sich ab.
Wir feiern an diesem Wochenende zwei Feiertage: Den Gedenktag „Aller Heiligen“ und das Reformationsfest. Beide haben etwas mit Vorbildern zu tun. Der kirchliche Heiligenkalender ist proppenvoll. An jedem Tag des Jahres wird erinnert - meistens an den Todestag eines Menschen, den man in der Vergangenheit in einem komplizierten Verfahren „heilig“ gesprochen hat. Sie oder er hat durch sein Leben, seine Taten, seine Haltung so viel Gutes für die Menschheit geleistet, dass sich mein Leben danach ausrichten kann. Wir kennen auch als evangelische Christen eine Menge Heilige: den Martin von Tours, Nikolaus, Barbara (am Eingang des Rennsteigtunnels der A71 in einer kleinen Nische zu sehen, weil sie Heilige der Bergleute ist), Elisabeth von Eisenach/Marburg, Franziskus von Assisi, auch Dietrich Bonhoeffer. Viele davon sind durch Festtage und Bräuche bekannt: Martinstag, Barbarazweige, Nikolaustag. Früher haben wir in der Kirche geglaubt, dass wir aus der Fülle der guten Werke etwas abbekommen können, wenn wir diese Heiligen nur anrufen.
Martin Luther und die anderen Reformatoren des 16.Jahrhunderts meinten, dass wir zu Christus eine direkte Verbindung haben, wie zu einer Schwester oder Bruder, Mutter oder Vater.
Als am Allerheiligentag des Jahres 1517 Studenten, Professoren und Bürger der Stadt Wittenberg die Schlosskirche betraten, fanden sie an der Eingangstür Martin Luthers 95 Thesen, die sich genau damit beschäftigen. Ich brauche keine guten Werke, um von Gott geliebt zu werden, sondern diese sind die Folge von Gottes Liebe in meinem Leben. Aber wie das aussehen kann, das zeigen mir auch die Heiligen. Im Heiligenkalender sind jeden Tag mehrere genannt. Manchmal ist mir ein Vorbild wichtiger, zu anderer Zeit ein anderes. Ich muss ihnen auch nicht in Allem folgen. Martin Luther ist zum Beispiel einer meiner Vorbilder, auch wenn ich ihm in seiner Haltung zu den Juden nicht folgen kann. Der Maßstab ist immer Jesus Christus selbst. An ihm haben sich schon meine Vorbilder ausgerichtet, jeder nach seiner Weise, in seiner Zeit und Lebenssituation.
Ja, ich selbst bin ein „Heiliger“, wenn ich mein Leben nach Gottes Willen ausrichte. „Heil“ zu sein, ist ein Geschenk, das benutzt werden möchte, um die Zustände in dieser Welt zu heilen.
Ob es mir immer überzeugend gelingt?