Barmherzig sollen wir sein
Barmherzig ist, wenn die Lehrerin Sternchen vergibt, die man einlösen kann, wenn einem mal ein Punkt bei der Kontrolle fehlt.
Barmherzig ist, wenn die Mutter nicht schimpft und wider Erwarten ihr Kind in die Arme nimmt.
Barmherzig ist, wenn der Sohn es der alten Mutter nochmal und nochmal wiederholt, da diese einfach keine Hörgeräte tragen will.
Barmherzig ist die Schwester, die freundlich und liebevoll den alten Herrn wieder frisch macht.
Barmherzig ist, wenn sie mit ihm Fußball schaut obwohl sie den Film sehen wollte.
Barmherzig ist ein schiefes Bäumchen stehen zu lassen.
Barmherzig ist, wenn sie sich erlaubt, nicht immerzu besser sein zu müssen als die anderen.
Barmherzig ist, wenn er sich eine Pause nimmt.
Barmherzig ist einer zuzuhören, die wie immer nicht zum Ende kommt.
Barmherzig ist, den anderen heute mal nicht zu korrigieren, auch wenn man es besser weiß.
Barmherzig ist, einem etwas zu geben ohne zu fragen, ob er es verdient hat.
Barmherzigkeit ist eine Mitspielerin der Gerechtigkeit.
Barmherzig sein heißt: sich eines anderen annehmen,
barmherzig sein - um seine Würde festzuhalten,
oder ihm zu helfen, dass er sein Gesicht nicht verliert.
Barmherzig sein ist genau einen Schritt über dem, was normal wäre, über dem, was alle erwarten, ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und einem anderen das Herz erwärmt.
Barmherzigkeit wird manchmal missverstanden als Schwäche, Inkonsequenz oder Rechtsbeugung.
Und nur wer selber Barmherzigkeit erfahren hat, wird barmherzig sein.
Barmherzigkeit braucht ein weites Herz, die Fähigkeit zu verzichten und zu verzeihen und braucht Menschenliebe.
Barmherzig zu sein erscheint einem in heutigen Zeiten schon beinahe verwegen.
In jedem Jahr gibt es einen Bibelspruch, der das Leben der Christen begleiten soll. Lange zuvor wurden diese Sprüche ausgewählt - in Unkenntnis der Situation auf die sie treffen würden. Der Spruch für das Jahr 2021 heißt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)
Die Bibel erzählt, dass Gottes Augen seine Menschen voller Barmherzigkeit ansehen. Dass Gott nicht urteilt, wie die Menschen urteilen. Und dass Menschen, die das gespürt haben, selber barmherzig geworden sind. Mit anderen und mit sich selbst. Ein Jahr liegt hinter uns, das uns durchgeschüttelt und verunsichert hat. Es hat manches in Frage gestellt und unsere Mitmenschlichkeit erprobt. Wenn wir in dem Jahr, das nun kommt, damit rechnen könnten, dass wir und andere barmherzig mit uns sind - das wäre eine gute Aussicht. Am besten gelingt das, wenn wir selbst damit anfangen. Vielleicht nachher. Vielleicht morgen. Einmal ein kleiner Schritt mehr als nötig. Was auch immer das kommende Jahr für uns bereit hält: wir können es im Kleinen - direkt neben uns und in uns - besser machen mit geübter Barmherzigkeit. Schreiben Sie das Wort „Barmherzig“ groß auf einen Zettel und hängen ihn gleich neben die Tür. Seien Sie verwegen barmherzig - mit sich und mit denen, auf die sie treffen. Denn die Barmherzigkeit ist die versteckte Gewalt des Segens Gottes - mitten unter uns. So wird viel Segen im Neuen Jahr sein.
Pfarrerin Bettina Schlauraff, Bibra