Der barmherzige Vater
Sie spricht fünf Sprachen. Sie hat in fast dreihundert Filmen die Stimmen französischer und italienischer Schauspielerinnen synchronisiert. Sie spielt Chopin und Liszt. Natürlich ohne Noten. Im Frühjahr hat sie den Meyerlinhof gekauft, weil die Scheune groß genug ist.
„Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Landgeistlicher!“, sagt sie. „Sie haben mir neulich diesen Kalender geschenkt und ich fand auf der ersten Seite das Zauberwort meiner Herkunft: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
„Das ist die Losung des kommenden Jahres“, sage ich.
„Bei mir war es die Losung meiner Kindheit“, erwidert sie, während sie nach ihrem Glas tastet. „Ich hatte nämlich tatsächlich einen barmherzigen Vater. Andere Kinder hatten strenge Väter, laute Väter, mürrische Väter oder Väter, die davongelaufen sind. Ich hatte einen barmherzigen Vater.
Ich war acht, als das Licht schrumpfte und die Farben schwanden. Von einem Tag auf den anderen konnte ich die Buchstaben an der Tafel nicht mehr lesen. Also bekam ich eine Brille mit dicken Gläsern. Die Jungs lachten mich aus. Als mein Vater davon hörte, hob er mich auf seine starken Arme und sagte: 'Sei ihnen nicht bös! Sie haben die falschen Augen. Die Brille macht dich noch ein bisschen schöner, Prinzessin. Glaub mir! Ich weiß es, weil ich es sehe. '
Dann zog er das Übergroßbuch aus dem Regal und wir schauten uns das bunte Karussell an. Es ging über zwei Seiten. Ich liebte es. Es waren so lustige Figuren drauf: Ein schiefes Fahrrad mit eckigen Rädern, ein Elefant mit Zigarre im Rüssel, Pferde in roten Gummistiefeln, ein Toilettensitz mit Regenschirm drüber und eine goldene Kutsche mit Zahnarztstuhl drin. Zu jeder Figur erzählte mein Vater eine Geschichte, jedes mal eine andere.
Als mein Licht dann immer weiter schrumpfte, fuhr er mit mir in die Klinik. Aber sie wussten keinen Rat. Wenige Tage später war alles im Nebel. Ich lief gegen die Wand. Ich stieß mich an den Schränken, und wenn die Katze im Weg lag, fiel ich über ihre weiche Anwesenheit. Da brachte mich mein Vater zu dem hohlen Baum hinter dem Haus. 'Kriech rein, Prinzessin!', sagte er. 'Du kannst dich mit allem befreunden, wenn du es berührst.' Also schlüpfte ich durch die Öffnung und legte meine Hände auf das Holz. Es war war feucht und fühlte sich dunkel an.
Der Sommer hatte dann gar kein Licht mehr für mich. Ich fuhr mit dem Zug zur Blindenschule am anderen Ende der Stadt. Wenn mein Vater mich abholte, dann spielten wir manchmal „Hausbesuch“. Wir zwängten uns zu zweit in die Telefonzelle und mein Vater schlug das dicke Buch auf. Dann riefen wir irgendeinen an und baten ihn, das Zimmer zu beschreiben, in dem er lebte. Manche legten wieder auf. Andere plapperten gleich munter drauflos.
Eine Frau erzählte von über neunzig Puppen, die in ihrem Wohnzimmer saßen, zwei davon sogar auf dem Fernseher. Die Frau war so sehr allein, dass sie mit ihren Puppen streiten, lachen und weinen musste.
Ein andermal meldete sich ein lauter Mann, bei dem überall Scherben herumlagen, weil er die Flaschen hasste, die er ausgetrunken hatte. Er warf sie wütend an die Wände oder zerschlug sie einfach vor sich auf dem Fußboden. Dann lief er zwischen den Scherben herum und musste sich dauernd neue Schuhe kaufen.
Es gab auch einen Herrn, der nur noch flüstern konnte. Man hatte ihn operiert, und seine Stimme war dabei kaputt gegangen. Aber es machte ihm nichts aus. Er hatte sowieso keine Lust zu reden.
'Blinde Prinzessinnen können Musik sehen.', hauchte er, als mein Vater ihm von mir gesagt hatte. Dann legte er den Telefonhörer auf den Tisch und spielte für mich Klavier. Ich wollte, dass er nie wieder aufhört. Aber irgendwann hatte er keine Noten mehr, und ohne ging es bei ihm nicht.
„Hausbesuch“ haben wir oft gespielt. Ich mochte es. Ich kam in andere Leben hinein und konnte sehen, was ich hörte.
An meinem neunten Geburtstag kamen vier keuchende Männer die Treppe hinauf und schoben etwas auf quietschenden Rollen ins Wohnzimmer. Mein Vater hob mich auf einen runden Hocker und drehte ihn so lange, bis ich weit genug oben war. Dann legte er meine Finger auf die Tasten und ich begann zu spielen. Ich wusste, wie es geht. Es war ja in mir drin. Die Musikschule hat es dann nur noch zueinander geordnet.
Irgendwann begann mein Vater, an den Samstagen in der Scheune zu hämmern, zu schrauben und zu schweißen. Kurz vor den Sommerferien war es dann soweit. Wir liefen hinüber. Er schaltete die Musik ein und legte meine Hand auf die erste Figur. Es war der Elefant mit der dicken Zigarre im Rüssel, daneben standen die Stiefelpferde, dann die Kutsche mit Zahnarztstuhl, das schiefe Fahrrad mit den eckigen Rädern und der Toilettensitz mit Regenschirm oben drüber. Auf allem konnte man sitzen und sich zur Musik von tausend Jahrmärkten drehen lassen. Mein Vater hatte das Karussell aus dem Übergroßbuch nachgebaut.“
Sie erhebt sich.
„Und jetzt, mein lieber Landgeistlicher, folgen Sie mir einfach mal!“
Sie geht vor mir her zur Scheune hinüber. Sie kennt den Weg auch ohne Blicke. Ich muss draußen warten, bis die Musik beginnt. Dann darf ich eintreten. Und da ist es und fährt seine klappernden Runden.
„Stehen Sie etwa immer noch am Tor?“ ruft sie.
„Ja“, antworte ich.
„Nun steigen Sie schon auf! Oder mögen Sie keine drehenden Welten?
„Oh doch!“, sage ich und setze mich auf das schiefe Fahrrad mit den eckigen Rädern, während sie auf einem der Stiefelpferde hockt. Die Meyerlinsche Scheune ist eine kunterbunte Drehbühne geworden.
Als wir schließlich wieder draußen auf dem Hof stehen, sagt sie:
„Ich weiß, was ein barmherziger Vater ist, und wenn Ihr Gott auch nur ein bisschen so wäre, könnt' ich's noch mal mit ihm probieren. Ich hatte ihn eigentlich schon weggeschickt, weil ich ihm so bös war.“
Und dann geht sie ins Dunkel. Ins Licht.
„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Thomas Perlick, Römhild