Der Mensch – das Maß aller Dinge
„Der Mensch – das Maß aller Dinge? Wie bequem! Einmal wird mit dem Riesen, ein anderes Mal mit dem Zwerg gemessen."
Unfrisierte Gedanken – so nennt der polnische Satiriker Stanislaw Lec seine knappen, aber treffsicheren Beschreibungen menschlicher Schwächen, seine Spitzen gegen die kleinen und großen Ungerechtigkeiten des Lebens. Wenn wir den Mut haben, selbst einmal unfrisiert und ungeschminkt in den Spiegel zu schauen, den er uns vors Gesicht hält, dann werden wir ihm wohl recht geben müssen: Wir Menschen sind nicht eindeutig. Wir messen oft mit zweierlei Maß, wenn wir uns und unsere Mitmenschen beurteilen und einschätzen. Im einen Fall legen wir den Zwerg an, da sind wir kleinlich und kleinkariert, da entdecken wir auch die kleinste Ungereimtheit, da machen wir den anderen nieder – im wahrsten Sinn des Wortes. Im anderen Fall – meist bei uns selbst – messen wir mit dem Riesen, da sind wir großzügig und geduldig, da finden wir für alles eine Entschuldigung, da drücken wir beide Augen zu. Gibt es überhaupt einen Maßstab, der nicht von unserer Lust und Laune, von Sympathie und Antipathie abhängt? Gibt es einen Maßstab, der jedem Menschen gerecht wird, der über das oberflächliche „Augenmaß“ hinausgeht? Der Apostel Paulus scheint einen solchen gefunden zu haben, wenn er seiner Gemeinde in Korinth empfiehlt:
„Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein.“
Paulus ist gegen seinen Willen mit einem in Berührung gekommen, der alle vordergründigen menschlichen Maßstäbe auf den Kopf gestellt hat, der nicht auf die Größe geschaut hat, sondern in die Tiefe, der bei seinen Mitmenschen durchgeblickt hat, bis auf den Grund ihres Herzens. Und der dann hinter dem Zwerg schon den Riesen sehen konnte, hinter dem kleinen Senfkorn schon den großen Baum, hinter dem verachteten Menschen das Geschöpf Gottes, hinter der abstoßenden Fassade die guten Anlagen. Wenn dieser eine auch für uns maßgebend würde? Wie unbequem! Wir sollten Riesen und Zwerge vergessen und uns auf die Suche nach dem Guten machen – auch dort, wo wir es nicht vermuten.
Mit Segensgrüßen
Pfarrer Donald Molin