Die gleiche Predigt?
Liebe Leserinnen und Leser,
vor zwei Wochen haben wir an den Tod von Jesus gedacht und das leere Grab gefeiert. Jedes Jahr die gleichen Bibeltexte. Jeder Gottesdienst hat festgelegteTexte aus dem Alten Testamen, den Briefen und Evangelien. Das Evangelium ist z.B. jedes Jahr gleich. Einer von sechs wiederkehrenden Texte ist Predigtgrundlage, in der „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ im Wechsel festgelegt. „Da könnt ihr Pfarrer es euch ja einfach machen. Alle sechs Jahre der gleiche Text heißt ja auch die gleiche Predigt. Das merkt sich doch eh keiner, was du da vor sechs Jahren gesagt hast!“ Wenn wir im Sommer nun sechs Jahre in Bibra wohnen, könnte ich testen, wie gut die Menschen im Gottesdienst zuhören. Vielleicht ist ja auch der ein oder andere ausformulierte Gedanke nach sechs Jahren noch gut?
Aber das Leben hat sich ja rasant verändert. In gut zwei Jahren vielleicht so stark wie in den 10 bis 15 Jahren vorher nicht: Coronaeinschränkungen, Debatten über Freiheiten des Einzelnen, Menschenrechte, Nächstenliebe, Hass und nun seit über zwei Monaten der Krieg in der Ukraine. Vorstellungen und Werte wandeln und verschieben sich in der Politik, auf der Straße, am Stammtisch, in der Familie und bei mir selbst. Unumstößlich scheinende Wahrheiten kommen ins Wanken. Gräben brechen auf. Was mal gegolten hat, scheint vorbei. Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Presse, Verbänden und auch Kirchen stehen mit jeder Äußerung zur aktuellen Lage im Fokus. Werden je nach Lagerzugehörigkeit gefeiert oder zerrissen. Bei jeder Veränderung wird das vorher Gesagte als Lüge und Falschheit gebrandmarkt.
Wenn sich so viel ändert, soll ich als Pfarrer heute noch das selbe sagen können wie vor sechs Jahren? Als Christ lebe ich nicht außerhalb dieser Welt. Ich bin mittendrin und unsere Kirche auch. Wir sind so vielfältig, wie wir einzelne Menschen sind. Wir haben unterschiedliche Meinungen und Vorstellungen zum Leben und auch zu den Worten der Bibel. Und das auch ist gut so, für den Glauben und die Meinungsbildung sich zu reiben und hinterfragen zu lassen. Aber eine Grundlage, die uns Jesus mitgegeben hat, dürfen wir nicht vergessen. Bei aller Meinungsverschiedenheit, bei allen Auseinandersetzungen ist der andere immer, so wie ich, ein Kind Gottes. Geliebt und geachtet und von Gott auf die selbe Stufe gestellt wie ich. Die wiederkehrenden Texte im Gottesdienst nehmen das auf und ermöglichen trotzdem einen neuen Blick auf mich, den anderen und die Welt. Vielleicht erkennen Sie an diesem Sonntag ja etwas, was gleich bleibt und was sich ändert. Es sind wie jedes Jahr zwei Wochen nach Ostern die gleichen alten Texte vom Hirten und seinen Schafen.
Viel Spass beim Entdecken wünscht Pfarrer Michael Schlauraff aus Bibra.