Ungeziefer

Du sollst den Namen des Menschen, deines Bruders, nicht missbrauchen!

 

Oh weh, darf ich das? Das zweite Gebot auf den Menschen umschreiben?

Nun, zum einen ist es kursiv gedruckt, zum anderen braucht Sprache immer auch freies Spiel, Improvisation.

Ich möchte heute an das erinnern, was mir im Pfarramt oft begegnet ist. Es war und ist ein Trauma in vielen Dörfern. Ich habe Menschen weinen sehen, wenn sie davon sprachen: Zwischen Mai und Juni 1952, sieben Jahre nach Kriegsende, kam es zu einem beispiellosen Gewaltakt der noch jungen DDR an ihrer Bevölkerung. Im Morgengrauen fuhren LKWs in einige Dörfer. Männer sprangen von den Ladeflächen und hämmerten an die Türen einzelner Häuser. Nach außen hin hieß das Unternehmen „Umsiedlung“, nach innen: „Aktion Ungeziefer“. In der Sprache lassen Mächtige manchmal ihre Maske fallen. Gern nutzte man den frühen Morgen für solche Überrumpelungen. Schlaf in den Augen macht die Menschen wehrlos.

Die Nachbarn wachten auf. Aber sie waren lieber still. Man könnte der nächste sein. Wer wollte sie verurteilen? Wer könnte das nicht verstehen?

Die Menschen wurden verladen wie Transportgüter. Man durfte ein paar Dinge mitnehmen, aber es waren nicht viele. Fragen wurden nicht beantwortet: Warum müssen wir alles verlassen? Das Haus, den Hof, die Wiese, den Friedhof der Ahnen? Keine Antwort und schon gar kein Trost. Immer gibt es Handlanger, die solche schmutzigen Geschäfte übernehmen. Befehl ist Befehl, wie im Krieg, so im Frieden.

Das späte Frühjahr 1952 zog einen Riss durch die Dörfer, die Familien und die Herzen. Aber jeder Mensch hat doch ein Recht auf sein Zuhause. Er kann es verlassen, wenn er will. Aber er darf niemals dazu gezwungen werden. Wie dringend muss das gerade in diesen Tagen wieder gesagt werden!

Viele haben sich in der Fremde eine neue Existenz aufgebaut. Manche kehrten irgendwann zurück, andere niemals.

Es ist an der Zeit, ihrer zu gedenken in diesem Jahre 2022. Und wir müssen endlich lernen, dass Gott diese Erde allen zur Heimat gemacht hat. Allen!

Eines noch, das nicht nur die Biologen wissen: Es gibt kein Ungeziefer unter den Tieren der Schöpfung. Es gibt auch keines unter den Menschen, woher sie auch kommen, wie sie auch denken oder glauben. Deshalb heute einmal diese sprachliche Tollkühnheit:

Du sollst den Namen des Menschen, deines Bruders, nicht missbrauchen! Er ist ein ebenso kostbares Geschöpf wie du!

Thomas Perlick, Pfarrer i.R., Bad Brückenau