Er weckt mich alle Morgen

Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, spricht der Prophet Jesaja. Der Dichter Jochen Klepper hat dazu ein Lied verfasst: Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor …

Was weckt uns das Ohr, das Auge, das Bewusstsein? Wecker? Handy? Radio? Sonne? Familiengeräusche? Vogelgesang? Verkehrslärm? Das Summen der Technik? Harndrang? Körperliche Schmerzen? Seelische Lasten? Die Gewohnheit, irgendwann halt aufzuwachen? Das Gefühl, bereit zu sein für mich selbst, für die mir anvertrauten Menschen und Wesen, für all die Aufgaben und Vorhaben? 

Jochen Klepper kannte vor 90 Jahren auch schon Techniklärm und Jesaja immerhin genügend andere Gründe, die einen aufwachen ließen. Und dennoch konnten beide sagen: Gott selbst weckt mir das Ohr! Er hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor, dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht … 

Laut und Licht, damit beginnt das Erwachen. Oder auch die Erlösung von einer unfreiwillig durchwachten Nacht. Jochen Klepper litt unter Schlaflosigkeit. Ein neuer Tag bedeutete für ihn in gewisser Weise auch Erlösung - neue Klarheit, neue Gnade. Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht … Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf … 

Wie spricht Gott? Wie sprach er bei der Erschaffung der Welt „vor“ Raum und Zeit, „vor“ allen Theorien und Erkenntnissen? Mächtig gewaltig wie Zeus oder Odin, mit dem Blitz, dem Götterhammer? Das kommt auch in der Bibel vor. Doch es kommt darin auch vor, dass Gott uns nahe sein kann in einem „stillen sanften Sausen“, in einer Art von „Atem“ oder „Lebenshauch“. Und vielleicht kommt diese Nähe unserer Vorstellung manchmal näher als Donner und Blitz. Gottes Wort als ein belebender Atemhauch, als ein erfrischender Wind, der die Welt erst möglich macht. Gott kann donnern. Aber er muss nicht. An der Dämmerung Pforte schreit man eher nicht. Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht, verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht; will vollen Lohn mir zahlen, fragt nicht, ob ich versag …

Sein Bündel, sein Kreuz schleppt man weiter mit sich, das löst sich nicht auf über Nacht. Jesaja war das klar, Jochen Klepper war das klar. Schon von seiner Veranlagung her war er kein „frisch-fromm-fröhlicher“ Christenmensch, und seine letzten Jahre in Zeiten von Krieg und Tyrannei sind ein einziger Passionsweg gewesen. Doch er war gewiss bis zuletzt: Es gibt eine Erfüllung für unser Dasein, die wir hier bestenfalls erahnen, aber nicht erfassen können. Der Karfreitag ist real, aber Ostern ist auch real - und Ostern überwindet den Karfreitag! Denn sein Wort will helle strahlen, wie dunkel auch der Tag.

Eine gesegnete Passions- und Osterzeit wünscht Ihnen Sebastian Wohlfarth