Findelkind des Lebens
Das Leben erzählt sich in Geschichten. Aber wie sagt sich der Tod? Lässt er sich überhaupt erzählen? Ist er nicht einfach nur das große Aufhören nach dem letzten Blick, dem letzten Wort, dem letzten Atemzug? Bleibt er nicht immer der rätselhafte Fremde, der uns nur bei anderen begegnet, weil wir ihn verpassen, wenn er uns selbst betrifft? Unser Sterben können wir wahrnehmen. Unseren Tod nicht. Ist er also einfach nur der kalte Bruder der Nacht und wir seine Beute? Droht uns nichts so sicher wie dieser emsige Erntehelfer, der mit scharfer Sense durch das Korn des Lebens fährt?
Wie erzählt sich der Tod? Muss alles vor ihm verstummen? Ist dieser mundlose Verschweiger der letzte Vorhang nach der Komödie oder dem Drama das Lebens?
Ich hatte viel mit dem Tod zu tun in meinem etwas exotischen Beruf. Aber ich habe ihn nie allein angetroffen. Er war immer ein Findelkind des Lebens. Es gibt den Tod niemals nach dem Tod. Es gibt ihn immer nur nach dem Leben. Er beglaubigt es auf seine Weise. Nicht nur das Leben erzählt sich in Geschichten. Der Tod kann das auch. Deshalb ist mir der Karfreitag so lieb. Er erzählt die Geschichte eines Todes und buchstabiert dabei das Leben. Dazu nutzt er ein höchst verwegenes Erkennungszeichen: Ein Balken zeigt zum Himmel und einer zu den Horizonten. Das Kreuz verbindet die Welten: Die sichtbare und die verborgene. Die Geschichte dazu kannst du nachlesen in der Bibel, diesem buntesten GottundMenschenerzählband der Welt. Die Passionsgeschichte steht dort viermal, weil der Tod sich niemals nur in einer Sprache erzählen lässt. Auch das verbindet ihn mit dem Leben. Und wenn du schon einmal dabei bist: Lies ruhig noch ein bisschen weiter bis zu Ostern hinüber. Das ist übrigens keine neue Geschichte. Das Leben erzählt sich einfach weiter.
Der Tod kann das nicht.