Geh langsam
Vor 200 Jahren schrieb Ch. Lichtenberg „Es gibt zwei Wege, das Leben zu verlängern, erstens, dass man die Punkte geboren und gestorben weiter voneinander bringt...; in diesem Fache haben Ärzte sehr viel geleistet. Die andere Art ist, dass man langsamer geht und die beiden Punkte stehen lässt, wo Gott will.“ In diesen Sätzen versteckt Lichtenberg die Frage: Was nützt es, wenn wir unser Leben um Tage oder Jahre verlängern, dann aber hastig und oberflächlich durchs Leben rennen und uns keine Zeit lassen, wirklich zu leben? Eine Frage, die heute aktueller ist denn je: Noch nie hatten die Menschen so viel Lebenszeit zur Verfügung wie heute. Und noch nie gab es so viel „freie Zeit“. Aber hat diese Verlängerung auch ein „mehr“ an Leben zur Folge? Es sieht nicht so aus. Die Klage, keine Zeit zu haben, wird immer lauter. Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir. In seiner Beschreibung versteckt Lichtenberg den Appell: Geh langsamer! Lebe bewusst in der Zeit, die dir zur Verfügung steht!
Geh langsamer – dann behältst du die Orientierung.
„Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch geschwinder, als der ohne Ziel herumirrt“ – meint Lessing, ein Zeitgenosse Lichtenbergs. Geh langsamer – dann hast du Zeit, deine Umgebung wahrzunehmen und Eindrücke zu verarbeiten. Dann kannst du genießen. Geh langsamer – dann findest du Zeit, ganz bei dir zu sein. Dann wirst du im Gespräch mit anderen die leisen Zwischentöne vernehmen, in denen sich Bitten, Hoffnungen und Anfragen verstecken. Du wirst kleine Worte und Gesten wahrnehmen, mit denen andere dich aufmuntern, trösten und dir ihre Sympathie zeigen. Geh langsamer – lass die anderen vorauseilen, damit du Zeit findest, mit dir allein zu sein. Dann wirst du erkennen, wer dir in stürmischen Zeiten zu Hilfe kommt; wer bei dir bleibt, wenn dir das Wasser bis zum Hals steht; wem du vertrauen kannst, wenn dir der Wind ins Gesicht bläst; an wem du einen Halt hast, wenn du in Terminfluten und der Hektik deiner Tage den Boden unter den Füßen verlierst.
Es gibt zwei Wege, das Leben zu verlängern. Wenn wir dieses Thema nicht den Ärzten allein überlassen möchten, wenn wir für uns den zweiten Weg wählen und langsamer gehen wollen, dann ist heute eine günstige Zeit für erste Schritte.
Mit Segensgrüßen
Pfr. D. Molin