Gott nah und fern
Endlose Sandmeere erstrecken sich bis zum Horizont. Die Trockenheit hat das Land ausgezehrt. Auch die letzten Grashalme sind von den Ziegen abgeweidet. Was zurückbleibt, sind Öde und Leere, die durch andauernde Sandstürme ergänzt werden.
Geschildert ist die Wüste Gobi im Zentrum Asiens. Die Redensart von Gott verlassen beschreibt diesen Ort sicher treffend.
Von Gott verlassen sein, Gottes Ferne empfinden – auch ein Wort der Bibel weist in diese Richtung: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (Jeremia 23)
Im Buch des Propheten Jeremia ist dieser Spruch überliefert. Gott als der Nahe und der Ferne. Beides steht dicht nebeneinander. Beides schließt sich offenbar nicht aus. Im Hintergrund schillert die Eroberung der Stadt Jerusalems durch die altertümliche Großmacht Babylon. 2600 Jahre liegt dieses Ereignis zurück. Sicher, heute eine alte Geschichte; zu jener Zeit eine Katastrophe: Tod, Zerstörung, Leid. Verschleppt saßen die Israeliten an den Ufern Babylons und trauerten um ihre herrliche Stadt Jerusalem und den zerstörten Tempel. Wie soll es nur weitergehen, fern der Heimat, ohne Stadt und Tempel? Großes Leid. Viele Klagen. Gottes Ferne.
Auch den Reformator Martin Luther trieb die Frage um: Wie ist die Ferne Gottes zu verstehen? Was nützt mir Gott, wenn er mir nicht nahe ist? Die Antwort bestimmte Luthers weiteres Leben: Ja, manchmal ist Gott ferne, ich verstehe ihn nicht. Gottes Wirken ist ein Geheimnis und ein Rätsel. Gott bleibt mir oft verborgen. Aber das ist nur die eine Seite. Denn in Jesus Christus kommt Gott den Menschen nahe. Er wurde selbst Mensch. Auch das Leiden blieb ihm nicht erspart. Er wurde schwach und starb unter unsäglichen Qualen am Kreuz.
Auch ich habe in meinem Leben die Ferne Gottes erfahren, in Zeiten des Leides und der Not, schwerer Krankheit und beim Tod lieber Angehöriger. Die Frage drängte sich auf: Gott, wo bist du? Warum bist du ferne? Diese Frage habe ich oft gestellt. Die Frage nach Gott. Der Zweifel an Gott. Zur Sinndeutung wurde mir Christus am Kreuz. Durch sein Leiden ist er mir nahe. Denn er hat selbst gelitten und kennt mich. Er weiß, wie es mir geht, wie ich denke und fühle.
Der ferne Gott kommt uns in Jesus Christus nahe. Und Jesus Christus ist und bleibt nahe, indem wir ihn verkündigen, indem seine Botschaft und sein Leben in Kirche und Gesellschaft eine Rolle spielen und thematisiert werden. In diesem Bewusstsein der Nähe Jesu Christi feiere ich Gottesdienst. Und vielleicht ist mir gerade deshalb der Gottesdienst ein Ort der Freude und Stärkung. Unersetzbar und einzigartig.
Schulpfarrer Daniel Meyer, Meiningen