Gottes Superkraft ist die Liebe
Für mich sind diese Wochen eine Zeit des Rückblicks und des Abschiednehmens. Nach dem Sommer werde ich eine neue Aufgabe in der Landeskirche übernehmen. Beim Versuch eines Resümee fällt mir auf, wie bemerkenswert die letzten beiden Jahre wirklich waren. Wie wir alle es geschafft haben, uns an wirklich unwirtliche Bedingungen anzupassen, d.h. arrangiert haben mit Dingen, die sich nicht ändern ließen. Was für kreative und ermutigende Sachen uns da eingefallen sind: selbst angemalte Steine im Ort verteilen, Glocken läuten lassen zu einem bestimmten Zeitpunkt, um aneinander zu denken, Nachbarschaftshilfe beim Einkaufen, Postkartenaktionen gegen die Einsamkeit, offene, schön gestaltete Kirchen, Musik auf dem Marktplatz, Weihnachtssterne zum Verschenken, Anrufketten zum einander Zuhören, Wäscheleinen mit Segenssprüchen zum Mitnehmen oder Whatsapp-Gottesdienste und gemeinsames Beten. Eines war klar: um keinen Preis hätten wir die Hoffnung und die Zuversicht hergeben wollen, auch wenn sie uns manchmal ganz klitzeklein geworden waren. Mit den kleinsten Mitteln und auf fast unmöglichem Raum haben wir einander ermutigt und haben versucht, niemanden zurück zu lassen. In einer uns völlig unbekannten und unplanbaren Situation haben wir Wege zum Leben gefunden. Was für eine Welle aus Miteinander und Füreinander! Was für eine Kraft der Hoffnung und welche Kraft des Evangeliums, das uns ja eben gerade vom Auferstehen und Neu-Werden berichtet, hat sich da ereignet!
Wenn ich in diesen Tagen den Menschen zuhöre, dann sind schon wieder ganz neue Ängste und ganz andere Unsicherheiten dazu gekommen, die uns vor 2 Jahren nicht denkbar schienen. Unser Leben von vor 2020 scheint noch weiter weg zu rücken. Aber es hat nicht nur verloren! Es sind Erfahrungen dazu gekommen: die Gewissheit, Schwieriges und fast Unmögliches meistern zu können, das Entdecken neuer Talente und dass sich Hoffnung und Glaube durch die kleinste Türritze schieben und Zuversicht sich weitergeben lässt.
In meiner Arbeit begegne ich vielen Schicksalen und Lebensgeschichten, die mich wirklich immer staunend und hoffnungsvoll zurück lassen. Einmal besuchte ich ein älteres Ehepaar, beide waren schon über 90 Jahre alt. Ich fand sie gerade im Hof. Beide konnten nur noch mühsam laufen und brauchten einen Stock. Immer gingen sie zum Wäschehängen gemeinsam in den Hof. Langsam. Mit Bedacht. Und kleinen Pausen. Zum Durchatmen. Sie nahm ein Hemd, mit der freien Hand. Und hob es langsam zur Wäscheleine. Und er, mit seiner freien Hand, von der anderen Seite, nahm eine Wäscheklammer. In der Mitte begegneten sich ihre Hände. Sie hielt. Er drückte fest. Sie stützten sich einen Moment aneinander. Hand an Hand. Lächelnd. Schnauften durch. So hatten sie es schon immer gehalten. Über 14 Jahre ist diese Situation her und ich erinnere dieses Bild immer noch so stark. Wie zwei einander Halt geben können, denen das von außen sicher niemand zugetraut hätte.
Die neue Woche, die bald anbricht, hat (wie jede Woche) einen Bibelspruch als guten Hinweis zum Leben. Er heißt „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6,2) Das Bild der beiden mit Hemd und Klammer, das Bild der Hände, die sich kurz stützen, das Bild der beiden, die so das Leben bewältigen, das kommt mir bei diesem Spruch immer in den Sinn. Wir haben die stärkste Geheimwaffe gegen Angst und Trostlosigkeit in uns. Gottes Liebe. Das ist mit „das Gesetz Christi erfüllen“ nämlich gemeint: liebevoll miteinander und mit sich selbst sein. Dem/der anderen tragen helfen und selber solches Mittragen erleben. Geh getost in die Woche! Lass dich leiten von seine Liebe.
Pfarrerin Bettina Schlauraff