Leid tragen

Der Frühlingshimmel wölbt sich über der Stadt, einige Büsche tragen zartes Grün. Narzissen, Hyazinthen und andere Frühlingsblumen schmücken die Vorgärten. So bewusst wie in diesem Frühling hat es der Mann noch nie gesehen. „Ob ich es nächstes Jahr noch sehen werde?“, so geht es ihm durch den Sinn. Seit drei Wochen kennt er seine Diagnose: Hirntumor. Das Schlimmstmögliche ist eingetroffen. Eine Operation könnte helfen, doch es bleiben Risiken. „Werde ich nach der Operation noch sehen und mich bewegen können? Wird sich meine Persönlichkeit verändern?“ All diese Fragen steigen in ihm auf. Und : „Warum ich? Warum jetzt? Ich bin doch erst vierzig Jahre alt. Meine Kinder sind noch jung. Ich stehe doch mitten im Leben!“

Der Mann weiß: Er ist nicht der einzige, der Leid trägt. Er hat viel gesehen in der Klinik, insbesondere die krebskranken Kinder lassen ihn in Gedanken nicht los. Das achtjährige Mädchen mit dem roten Kopftuch um den von der Chemotherapie kahlen Kopf, meist saß sie auf dem Schoß ihrer Mutter. Sie ist alleinerziehend, erzählte diese während der Wartezeiten.“ Meine Beziehung ist an den Belastungen der Krankheit zerbrochen.“

„Früher habe ich dieses Leid nicht gesehen. Ich habe es nicht sehen wollen“, denkt der Mann. „ Auch das Leiden von Menschen in anderen Ländern der Welt, seien es nun die Kriegsbetroffenen in der Ukraine oder die Erdbebenopfer in Syrien oder der Türkei - das war weit weg von mir. Ich habe weggeschaut. In den blauen Frühlingshimmel und auf mein erfolgreiches Leben. Leid hatte keinen Raum.“

Morgen am Karfreitag will er in die Kirche gehen. Dort hat das Leiden einen Raum. Er wird sich erzählen lassen von dem Gott, der sich dem Leiden nicht entzieht, der den Schmerz, die Angst und den Tod hautnah spürt. Er wird von dem Gott hören, der das Leid der Menschen teilt, trägt und aufhebt.

Das Leid hat einem Raum in der Kirche – aber nicht das letzte Wort. Das hat Jesus Christus, der sagt: Ich lebe und Ihr sollt auch leben.

 

Beate Marwede, Superintendentin in Meiningen