Selig sind die Sanftmütigen
Wenn es eine evangelische Pilgerstätte gibt, dann ist es zweifellos die Schlosskirche in Wittenberg. Hier soll Martin Luther mit wuchtigen Hammerschlägen die alte Zeit der Unfreiheit beendet haben, mit denen er seine 95 Ablassthesen an die Kirchentür heftete. Davon ist allerdings so ziemlich alles falsch, genau wie die Behauptung, Luther hätte später mit der Bibelübersetzung die Grundlage für die moderne deutsche Sprache geschaffen – schön zu erzählende Legenden, die alte Vorurteile und Abgrenzungen bekräftigen, und deswegen unausrottbar.
Die Schlosskirche in ihrer jetzigen Gestalt sollte als steingewordenes Zeugnis solcher Legenden und Urteile wirken. Wunderbarerweise behielt sie aber ihren Namen: Allerheiligenkirche. Dass der Reformationstag der Vortag zu Allerheiligen ist, daran erinnert in den evangelischen Gottesdiensten am 31. Oktober wie in den katholischen Gottesdiensten am 1. November gleichermaßen die Evangeliumslesung, die Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium. Jesu Worte führen Christen zu jeder Zeit und an jeden Ort zusammen; sie sind die Quelle für Besinnung und Neuanfang gleichermaßen. Was Vorurteile und Rechthaberei an Schlimmen bewirken kann, dass zeigt nicht nur die Geschichte (auch die der Kirche), wir erleben es auch in unseren Tagen. Aber die Hoffnung lebt weiter: Ich habe es oft erlebt, dass Menschen als überzeugte, selbstgerechte Protestanten die Allerheiligenkirche betraten und sie als dankbare, demütige Christen verließen. Das ist Erneuerung (Reformation), das ist Heiligung, die Gott uns allen schenken möge.
(Ein Lesetipp für den freien Tag: Matthäusevangelium, Kapitel 5, Verse 1 – 12.)