Spielraum
Die alte roten Holzskier glänzen im Sonnenlicht auf meinem Treppenaufgang. Sie lehnen dort, als würde gleich jemand seine Füße hinein stecken, die Lederriemen festziehen und losgleiten. Das war ja auch der Plan. Die alten Skier hatte ich vor knapp zwei Wochen für meine Schuhe zurecht gemacht und freute mich auf eine Urlaubswoche - wenn schon zu Hause und ohne Reise - dann wenigstens mit Schnee und Skifahren. (Nicht dass ich das könnte, aber ich wollte es probieren.) Das bisschen Erkältung, das plötzlich auftauchte, sollte mich dabei nicht aufhalten. Und eine schöne Stunde auf Skiern habe ich tatsächlich geschafft, doch dann kam das Fieber. Dann kamen Schmerzen, Geruchs- und Geschmacksverlust. Ich musste das Bett hüten. Corona hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und alle meine Pläne blockiert. Als müsste ich nicht ständig schon genug Pläne in den Wind schreiben. „Es wird eng.“, sagen manche gerade oft. Viele haben so eine Situation im Leben erlebt. Wenn einem einfach kein Spielraum bleibt. Und auch in diesen Tagen geht es vielen so, manchmal auch mir, dass man betrauert, was immerzu alles nicht geht. Lästig, die Last des nicht enden wollenden Ausnahmezustandes. „Wann hört das endlich auf?“, fragen mich manche. Das Leben soll nicht blockiert sein, es soll endlich weiter gehen! Das wünsche ich mir auch gerade - im Bett liegend. Wie ätzend, wenn es nicht voran geht.
Und nun auch noch die Fastenzeit. Zynisch sagt so mancher: „Ich muss schon auf genug verzichten. Fasten? Habt ihr sie noch alle?“ Aber mir geht es damit anders. Für mich ist die Fastenzeit nicht vorwiegend eine Zeit zum Verzichten. Für mich ist es eine Zeit geworden, Dinge anzugehen, die ich sonst nicht hinbekomme. Immerzu Aufgeschobenes endlich umzusetzen. Neues auszuprobieren. Etwas zu tun, was ich schon ewig vor mir her schiebe. Für mich sind das 7 Wochen Auszeit, um Dinge in meinem Leben zu bewegen und auch mal auf mich zu schauen. Ich habe erfahren: wo Blockaden mich zu hindern schienen, ergab sich plötzlich Spielraum. Das Gefühl, keine Gewalt mehr über mein Leben zu haben oder sie immerzu haben zu müssen, wurde kleiner. Kleine Änderungen in meinem Leben brachten ein Gefühl von Freiheit und Frische und dennoch Verankertsein.
Seit ich nichts mehr schmecke und rieche, merke ich wieviel Lebensqualität mir Düfte, Gerüche, Aromen geben. Aber mir ist nie aufgefallen, welche vielen Konsistenzen es alles gibt! Ich entdecke sie gerade, ein neuer Spielraum, der mir vorher gar nicht zugänglich war. Ein Honigbrötchen - unfassbar viele Schichten von knusprig und dann samtig weich, dann das kalt-schmelzig-buttrig und am Ende warm-körnig-klebrig. Eine echte Entdeckung. Und irgendwann wird auch der Geschmack wieder dazu kommen.
„Spielraum - Sieben Wochen ohne Blockaden“- so heißt das Motto der Fastenzeit in diesem Jahr. Ich glaube wir sind gerade Meister*innen darin geworden, enge Räume mit viel Phantasie zu gestalten. Nutze doch die sieben Wochen mal für dich selbst! Wo gibt es etwas zu entdecken? Wo wartet ein Stapel Bücher, eine leere Badewanne, ein verebbtes Gespräch unter Freunden auf dich? Wo ist es eng? Spielraum heißt Bewegungsraum, heißt weniger Enge, heißt Staunen und Entdecken, frei werden zum Gestalten. Da ist noch so unendlich viel möglich! Geh mit Segen in die Fastenzeit.
Pfarrerin Bettina Schlauraff
Informationen zur Fastenaktion der Evangelischen Kirche: www.7wochenohne.evangelisch.de