Verkannte Wirklichkeit
„Religion ist im Kommen“, so titulieren immer wieder einmal journalistische Beiträge in ganz unterschiedlichen Medien. Auch seriöse wissenschaftliche Untersuchungen gehen dieser Entwicklung nach.
Bei uns im Osten reibt mancher sich darüber verwundert die Augen, ist doch dieser Trend in der Öffentlichkeit hier kaum zu erkennen. Der Zusammenschluss von zwei evangelischen Landeskirchen in den letzten Jahren bestätigt das. Sie schließen sich nicht zuletzt auch deswegen zusammen, weil die Mitglieder weniger werden und das Geld für die vielen Aufgaben nicht mehr reicht.
Es muss außerdem zwischen einem Auftrieb von Religiosität und Mitgliedschaft in einer Kirche unterschieden werden. Andererseits gilt genauso: Nach wie vor steigt die Zahl der Christen weltweit. Zwar lassen mich die Negativfeststellung wie die Positiventwicklung nicht unberührt. Aber sie haben wenig mit dem Kern der Sache, mit der Wirklichkeit des Glaubens zu tun.
Wenn vor 250 Jahren ein französischer Pfarrer in Paris eine Predigt an seine leeren Kirchenbänke veröffentlicht, dann ist zu spüren, dass das Phänomen so neu nicht ist.
Jesus selbst hat viele unterschiedliche Reaktionen auf sein Wirken hin erlebt, jubelnde Zustimmung, enttäuschte Ablehnung, stillschweigende Gleichgültigkeit, blanken Neid und Hass, schließlich seine Hinrichtung am Kreuz. Aber nie hat er Massen manipuliert. Nie hat er sich von irgendeinem Verhalten der Menge abhängig gemacht.
Aber er hat sich auch nie von Hass und Ablehnung entmutigen lassen. Das war möglich, weil er in all den Auseinandersetzungen um seine Person sein Leben und Vertrauen ganz und allein auf Gott gesetzt hat. Und weil ihm nur an einem gelegen war: an den Menschen und ihrem wirklichen Glück und Heil. Die haben das gespürt und waren dennoch gefangen im Kreisen um ihr kleines, aufgeblähtes Ich, das so gerne sich selbst zum Mittelpunkt des Kosmos erklärt.
Das Wort Jesu: „Ich bin nicht gekommen, mir dienen zu lassen, sondern dass ich diene und gebe mein Leben zur Erlösung für die Menschen“, das hörten sie und hören wir gerne. Das entspricht unserer Vorstellung vom `lieben Gott`, der doch schließlich für uns da zu sein hat.
Aber die Konsequenz für das eigene Leben daraus zu ziehen, wie Jesus das sagt, das stößt auf weniger Gegenliebe: „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener“. Natürlich wollen wir lieber Karriere machen, vielleicht sogar zu denen gehören, die oben-auf sind, Sieger und nicht Verlierer sein, selber den Ton angeben statt nach der Pfeife anderer tanzen.
Dagegen war und wird es immer unattraktiv bleiben, den Weg dessen mitzugehen, der ihn an das Kreuz gebracht hat. Ob wir aber gerade so unsere Lebenswirklichkeit verkennen und die Chancen für unsere eigene Lebenserfüllung wie die zum Überleben der Menschheit vertun, das wird mir immer fraglicher.
Umso wichtiger wird mir die Gewissheit, dass Gott uns unverdient und überraschend sein Ja zum Leben und seiner unverbrüchlichen Liebe gegeben hat. Ostern, die Auferstehung, ist seine Lebenswirklichkeit. Diesen Aufstand Gottes gegen das ganze Todesverhängnis unseres Lebens sollen wir nicht verkennen.
Pfarrer i.R. H.J. Reum, Meiningen