Ein bisschen so wie Martin
„Ein bisschen so wie Martin“, singen vielerorts Kinder und auch so mancher Erwachsener stimmt bei „Laterne, Laterne“ mit ein. Kein Wunder, denn in diesen Tagen laufen wieder Kinder mit ihren Laternen durch die Straßen und erinnern sich an die Legende von St. Martin. Die Martinsfeiern beginnen meist mit einer Andacht oder einem Gottesdienst in der Kirche, in der dann Auszüge aus dem Leben des Heiligen gezeigt werden. Besonders häufig wird der Moment gezeigt, in dem St. Martin seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilt. Diese Szene ist der inhaltlich stärkste Teil der Martinslegende, doch was macht gerade diesen Moment so besonders, dass er immer wieder dargeboten wird?
Teilen lernen schon die Kleinsten unter uns. Es ist sicherlich auch einer der besten Möglichkeiten, um für mehr Gerechtigkeit untereinander zu sorgen. Doch wer Kleidung oder Nahrung ausgibt, wird nicht gleich zum Heiligen. Der Versuch, St. Martin nachzueifern ist ehrenwert. Doch es ist einfacher aus unserem Überfluss zu geben als das zu tun, was Martin tat. Deshalb möchte ich Sie zu einem Perspektivwechsel einladen: Was wäre, wenn Sie nicht Martin, sondern der Bettler in der Geschichte wären?
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer kalten Nacht unterwegs, am Rande der Gesellschaft, frierend und hilflos. Sie haben keine Aussicht auf Rettung, keinen Schutz, keine Sicherheit. In diesem Moment der Schwäche erleben Sie nicht nur Hilfe, sondern einen Akt der Großzügigkeit, der Ihre Vorstellungskraft sprengt. Wie fühlt es sich an, wenn jemand, der selbst nur ein Mensch wie Sie ist, plötzlich aufsteht und etwas teilt, das er selbst dringend benötigt? Wenn dieser Mensch seinen Mantel ablegt, um Sie vor dem Erfrieren zu retten.
Der Moment, in dem St. Martin seinen Mantel teilt, ist mehr als ein Akt der Barmherzigkeit. Es ist ein Akt tiefster Menschlichkeit. Es geht nicht nur um Anteile von Besitz, sondern um Empathie und die Erkenntnis, dass wir alle im Kern gleich sind. Martin sieht nicht nur einen Bettler, sondern erkennt sich selbst in ihm. Indem er dem Bettler hilft, gibt er nicht nur etwas Materielles, sondern auch ein Stück von sich selbst: seine Sicherheit, seine Wärme.
Vielleicht liegt der wahre Wert der Martinslegende genau in dieser Doppelbewegung: der Bereitschaft, sich in den anderen hineinzuversetzen – sowohl in den, der gibt, als auch in den, der empfängt. Ein bisschen wie Martin zu sein, bedeutet also auch, ein bisschen wie der Bettler zu sein. Ein bisschen so wie Martin, können Sie sich das vorstellen?