Zeitkarussell
Enkelmädchen will wissen, ob die Zeit auf einem Karussell sitzt und immer wiederkommt, so, wie der Geburtstag oder Weihnachten. Kinderfragen sind Tiefseefragen. Sie reichen oft bis zum Grund. Du musst lange die Luft anhalten, bevor du antwortest.
Also hole ich meinen Kalender.
„Schau mal!“, sage ich. „Im letzten Jahr habe ich meinen sechsundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Aber wir zählen nicht nur das Karussell der Jahre. In den Jahren drehen sich die Monate, in den Monaten die Wochen, darin die Tage, Stunden, Minuten, Sekunden.“
„Das ist aber viel, Opapa!“
„Ja, ein großer Jahrmarkt der Zeit. Weißt du, was ich dabei schön finde?“
„Was denn, Opapa?“
„Dass unsere beiden Karussells so dicht beieinander stehen. Wir können sogar kurz mal umsteigen. Aber danach muss jeder wieder auf sein eigenes.“
Sie nickt. Sie hat das Kindskopfverstehen aller meiner Enkel. Sie wissen mehr aus den Ahnungen, als wir aus den Fakten.
Ich überlege, ob ich ihr sagen sollte, was mir seit längerem durch den Kopf geht. Aber es ist wohl noch etwas zu früh.
Manchmal hole ich nämlich meine alten Kalender heraus, die Tagebücher meines Zeitkarussells. Dort begegnet mir das Vergangene in all den Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden, Minuten, Sekunden. Damals war es gegenwärtig. Der Morgen kam nach dem Abend und der Frühling nach dem Winter. Das neue Jahr ging am ersten Januar los, die Saat kam vor der Ernte und das Aufstehen nach dem Schlaf. Darauf konntest du dich verlassen. Alles hatte seine Wiederkehr auf dem Karussell der Zeit.
Aber wie ist das, wenn ich den Blick nach vorn richte auf die Zeiten, die noch kommen werden? Irgendwann wird das neue Jahr ohne mich beginnen, weil im alten mein irdisches Lebenskarussell stehengeblieben ist. Dann kommt für mich kein Abend mehr nach dem Morgen, kein Montag nach dem Sonntag, keine neunte Stunde nach der achten. Dann drehen sich die Karussells der anderen, aber meines steht still. Wie viele Kalender wechseln sich noch ab bis zu diesem Datum? Wie viele Tage folgen noch aufeinander und welcher wird zu welcher Stunde mein letzter sein?
Zu schwere Fragen? Nein, Tiefseefragen wie die meines Enkelmädchens. Du brauchst ein bisschen Mut und musst lange die Luft anhalten können. Dann kommst du bis zum Grund.
Also, bei mir ist das so: Ich schaue fröhlich nach hinten und erwartungsvoll nach vorn. Was war, macht mich dankbar, was sein wird, gespannt. Im Vergangenen weiß ich die Runden meines Karussells, im Kommenden sind sie mir verborgen. Aber beides ist mir Geschenk, Gottesgabe, Segen. Dass ich von hinten her fröhlich danke und nach vorn hin gespannt erwarte, liegt an meinem Kindskopfglauben. Es ist allerhand Himmel und Heimweh drin. Mit Vertrösten hat das übrigens nichts zu tun. Das ist auch so ein Begriff aus der jammervollen Ausnüchterungszelle der sogenannten Moderne. Da tanze ich lieber freudetrunken den Himmelsblues auf dem Hochseil meines Glaubens.
Also, das Jahr wird kommen, der Monat, die Woche, der Tag oder die Nacht. Natürlich macht mich das „Wie“ bang. Aber nicht das „Wann“. Ich mag das Karussell meines Lebens nämlich auch nach vorn hin. Warum?
„Ich hoffe auf dich, Herr, und spreche: Meine Zeit steht in deinen Händen.“ (Psalm 139, 16)
Deshalb!